De Living

Autor*in(nen)
Theater, Text und Regie: Ersan Mondtag, Doris Bokongo Nkumu, Nathalie Bokongo Nkumu, UA: 15.05.2019, NTGent
Inhalt

Die letzte Stunde im Leben eines Menschen. Die Vorstellung beginnt damit, dass eine Frau nach Hause kommt und endet mit ihrem Selbstmord. Oder umgekehrt? Können wir diese letzte Stunde auch rückwärts erzählen und die Frau wieder zum Leben erwecken?

Antigone, Ophelia, Hedda Gabler – die Figur der Selbstmörderin ist im Theater immer rebellisch und leidend zugleich. Die ganze Schönheit dieser Haltung kommt aber erst in ihrer Leiche zum Ausdruck. Von Anfang an weiß das Publikum, dass sie im letzten Akt sterben wird und trotzdem schauen wir uns das Stück an. Längst haben wir uns an das Gefühl der Unausweichlichkeit gewöhnt, während wir zuschauen, wie der Tod näher rückt. Indem wir uns diese Szenen immer wieder anschauen, durchleben wir alle Spielarten politischer und existentieller Hingabe und Machtlosigkeit. Oder gibt es einen Ausweg? Können wir der fatalen Abfolge von Ereignissen entkommen?

In DE LIVING geht es um die letzte Szene vor dem Selbstmord einer Frau. Wir sehen ihre letzten Gesten, den Versuch, Normalität aufrechtzuerhalten, einen Moment der Entschlossenheit, dann Zögern, Überlebenswille, der betäubt werden muss, und plötzliche Panik vor einem unkontrollierten Tod. Im Gegensatz zu den klassischen Tragödien wissen die Zuschauer beim Betrachten dieser letzten Szene nicht, was die Frau in den Selbstmord treibt. Sie können nur über ihre Vergangenheit spekulieren. Eine unglückliche Liebe wäre naheliegend. Hält sie dem dauerhaften Druck der Gesellschaft nicht stand? Oder erzählt die letzte Szene im Leben einer Frau weniger über ihr individuelles Schicksal als über eine tragische Erfahrung der Menschheit in einer dystopischen, aber nahen Zukunft? Ihr Tod wäre dann Ausdruck einer allgemeinen Erschöpfung des Menschen, einer Massenkrankheit, wie sie zu Beginn des neuen Jahrtausends vom französischen Soziologen Alain Ehrenberg diagnostiziert wurde.

Vielleicht liegen die Ursachen ihrer Depression aber viel weiter zurück – in einer ebenso schmerzhaften wie ignorierten Geschichte, wie sie der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe beschreibt: Zu Beginn des transnationalen Sklavenhandels, als die Menschen begannen, andere Menschen als Waren zu betrachten. Sie gingen dazu über Mauern zu bauen, um einen Teil der Menschheit davon abzuhalten, am Reichtum der Welt teilzuhaben. In naher Zukunft wird die Mehrheit der Menschen nicht einmal mehr als Sklaven gebraucht. In der letzten Szene vor dem Tod kämpfen wir immer noch mit einer impulsiven Angst vor einer äußeren Bedrohung, während wir uns mit allem, was wir tun, auf den kollektiven Selbstmord vorbereiten, indem wir den Klimakollaps herbeiführen.

Aber was wir beim Betrachten dieser letzten Szene über die heutige Welt erfahren, ist noch viel weniger eindeutig. Vielleicht verdanken wir die vielen albtraumhaften Diagnosen dieser Zeit nur dem Wahn einiger Propheten, die mit viel Medientalent eine apokalyptische Stimmung verbreiteten. Und selbst wenn wir die Zeit zurückdrehen könnten, wüssten wir wahrscheinlich nicht, was wir hätten anders machen können. Oder gab es diesen einen Moment, in dem wir den Selbstmord hätten abwenden können? Und wie können wir dieses Gefühl der Machtlosigkeit und Lähmung überwinden, das sich in unserer Gesellschaft zunehmend breit macht?

Eine Koproduktion mit Kunstenfestivaldesarts, La Villette (Paris), Théâtre de Liège, HAU in Berlin.