Das innere Jahrhundert
Während auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkriegs Frauen morden und sterben, ziehen die daheim gebliebenen Männer auf die Straßen, um gegen die Jahrtausende alte Vorherrschaft des Matriarchats zu kämpfen: Für das Recht wählen zu gehen, nicht den Haushalt schmeißen und alleine die Kinder versorgen zu müssen! Für das Recht endlich mal charmant angeflirtet zu werden!
Ganz auf der Höhe des Diskurses: Franka Wedekind, berühmt-berüchtigte Dramatikerin, eine von denen, die sich auf der Seite der Männer wähnt und mit progressiven Thesen zur ›Männersache‹ die zigarrepaffenden Altfrauenrunden aufzumischen gedenkt. Ihr 22 Jahre jüngerer Schauspielermann Till bringt derweil die Kinder ins Bett. So weit, so bekannt.
Brodowskys Text begleitet die Wedekinds kurz vor Frankas Tod auf eine letzte Gastspielreise und dokumentiert ihre großen und kleinen Wehwechen. Vor dem Hintergrund des zertrümmerten Europas rekonstruiert er dabei eine Gesellschaft in Bewegung: Maschinengewehre, Turbinenschiffe, vernetzte Seekabel und Elektrifizierung der Betriebe und urbanen Wohnungen – all diese rasanten Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts rufen nicht nur einen frühen Globalisierungsschub und neue künstlerische Avantgarden hervor, sondern produzieren auch völlig veränderte Körper- und Geschlechterselbstverständnisse. Während Franka und Till versuchen, Familie, love life und die schöne Kunst unter einen Hut zu bekommen, tobt um sie herum ein erbitterter Kampf um die Deutungshoheit – ein Kampf, der 100 Jahre später umso heftiger entbrannt zu sein scheint.
Mit DAS INNERE JAHRHUNDERT tritt Paul Brodowsky in eine hochaktuelle und dringend notwendige Auseinandersetzung mit einem Teil des dramatischen Erbes, das an den deutschen Stadt- und Staatstheatern gespielt wird. Gilt Frank Wedekind nicht als Skandalautor schlechthin, als Libertin und Lebemann, als antibürgerlicher Gesellschaftskritiker, der sich schon als Frauenrechtler verstand, noch bevor die meisten Frauen ahnten, daß es so etwas überhaupt geben könnte? Doch sind seine Figuren wirklich so emanzipiert? Was würde die Geschichte erzählen, wäre Wedekind gar kein Mann gewesen, sondern eine Franka? Und seine Tilly – vielleicht ein Till?
Was zunächst als einfacher Rollentausch erscheint, entpuppt sich als ein kaum zu überblickendes Spiel mit einstudierten Identitäten und überlieferten Hierarchien, das nicht nur weitgefächerte diskursive Falten wirft, sondern auch althergebrachte Selbstverständlichkeiten als Absurditäten der Geschichte entlarvt.
Mit schillernden Figuren und historischer Sensibilität leistet Brodowskys Text einen bittersüßen Beitrag zur Ausdifferenzierung aktueller Debatten um Gleichberechtigung und Unterdrückung.