Kaspar Hauser und Söhne
Am Pfingstmontag des Jahres 1828 erscheint in Nürnberg eine schwankende, etwa 16-jährige »possierliche und pudelnärrische Gestalt« mit rudimentären Sprachkenntnissen und gibt zu Protokoll, daß sie jahrelang ohne menschlichen Kontakt bei Brot und Wasser in Dunkelhaft gehalten worden sei, bis ein Unbekannter sie eines Tages in die Welt geworfen habe. Der rätselhafte Findling wird zur Attraktion. Unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit steigt er als Kuriosum zum »Kind Europas« auf, bis er 1833 unter ungeklärten Umständen stirbt. Über seinen Tod hinaus bleibt er Gegenstand unzähliger Spekulationen um seine Herkunft sowie philosophischer, psychologischer und medizinischer Analysen und somit Wissenschaftsobjekt.
100 Jahre später: Kaspar, seine Söhne und der weibliche Rest der Familie leben in Nürnberg, führen einen hierarchisch organisierten Familienbetrieb. Jeder von ihnen hat seine eigene Familie und Persönlichkeit, letztlich aber sind sie alle aus demselben Stoff gewebt.
Für die Umsiedlung der Kaspar Hausers ins 20. Jahrhundert entwirft Olga Bach die zersetzende Welt einer lieblosen genealogischen Zusammenrottung, ein hermetisch verschlossenes und durch die Auswüchse familiärer Hierarchien und unternehmerischer Gelüste abgestecktes Territorium, in dem jede Geste zum Schlag zu werden droht. Für ihre Kaspar-Figuren entwickelt die Autorin eine eigentümliche Sprache, die die Unbewohnbarkeit der Wörter, über die man zu verfügen meint, anrührend und schmerzlich vor Augen führt.
KASPAR HAUSER UND SÖHNE erzählt auch eine Geschichte aus dem langen 20. Jahrhundert im Süden Deutschlands: von Kriegen, Teilung und Wiedervereinigung. Der Text entwirft dafür eine Genealogie entlang einer zwanghaft traditionsbewußten Vererbungslinie innerhalb der engen Wände eines Familienunternehmens. Dabei spielt Olga Bach mit dem Kaspar-Hauser-Stoff als Mythos einer kollektiven und sich von Generation zu Generation fortsetzenden Schuld. Mit der Fortschreibung des Stoffes bis in die Gegenwart erzählt ihr Text von den Grausamkeiten der Tradition, vermittelt durch Sprache und Namen. Der Text versucht sich dabei nicht an einer Aktualisierung der rätselhaften Figur des Kaspar Hauser, vielmehr folgt er ihren Auswüchsen und Kontinuitäten durch die Zeit.
Mit diesem Auftragswerk für das Theater Basel führt Olga Bach auf begeisternde Weise vor Augen, daß aktuelle Theaterliteratur die oft banale Dekonstruktion hinter sich lassen kann und nicht auf das Vage und Fragmentarische angewiesen ist, um der Welt irgendwie habhaft zu werden. Sie erzählt in greifbaren Figuren und Situationen eine Geschichte, die dennoch einen großen Horizont an Fragen unserer Zeit aufwirft.