Lauf und bring uns dein nacktes Leben
»Every Day Ghandi« – eine von unzähligen NGOs, die versuchen, dem afrikanischen Kontinent Gutes zu tun. Diesmal in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone.
Conny und Max sind vor Ort und kümmern sich um eine kleinere Anzahl Jugendlicher oder Kinder, bei denen nie genau zu ergründen ist, ob sie in der Vergangenheit als Kindersoldaten herhalten mußten oder ob ihnen dieses schreckliche Schicksal erspart blieb. Vorstandsvorsitzender Reno und Geschäftsführer Edgar fliegen ein, um das Projekt in Augenschein zu nehmen, und es entspinnt sich ein kompliziertes Geflecht, in dem gleichermaßen Idealismus wie Pragmatismus, Spezialwissen wie totale Ahnungslosigkeit, naiver Optimismus wie latente Paranoia ihre Rollen spielen. Conny und Max, die nicht nur die Arbeit miteinander teilen, versuchen, das Projekt im besten Lichte darzustellen und gar die Eröffnung eines neuen Hauses im entfernten Kissy zu erreichen – ausgerechnet in einem Gebiet, in dem Ebola ausgebrochen sein soll. Der Zyniker Reno gibt sich mal als galanter Gönner, mal als abgebrühter Helfer-Profi, der aber seinerseits mit den Dämonen der Vergangenheit zu kämpfen hat, mußte er doch am Ende seines letzten Aufenthaltes im Land die Szene mehr oder minder fluchtartig verlassen. Der reuevolle Blick verbindet ihn mit Charlotte, die nach einer beachtlichen NGO-Karriere und amourösen Verstrickungen mit einheimischen Politikern nun in Sierra Leone gestrandet ist und auf eine seltsame Weise mit Anfang Vierzig aussortiert wurde.
So beäugt sie das Geschehen mit gewissem Argwohn und versucht wahlweise, alte Abhängigkeiten erneut heraufzubeschwören oder ganz plump einen Job zu ergattern. Im Compound der NGO geht es derweil mit dem Besuch aus Deutschland nicht wirklich voran. Man präsentiert die Objekte der eigenen Hilfestellung, man spekuliert über vermeintliche Gefahren in der Welt da draußen, jenseits des Compound-Tores, und immer wieder steht auch die drohende Schließung des Projektes im Raum. Max wird plötzlich krank, Ebola wird vermutet, aber keiner entwickelt einen rechten Plan, wie man sich dazu verhalten soll. Conny drängt auf die Abreise nach Kissy, wo sie ihr neues Projekt präsentieren möchte, aber auch damit klemmt es: Der Wagen streikt, und Ego, der schweigsame einheimische Fahrer, scheint wenig Drang zum Aufbruch zu verspüren.
So verrinnt die gemeinsame Zeit, während Reno über das große Ganze und die Entwicklung der Entwicklungshilfe sinniert, Edgar mehr oder minder permanent mit seiner Tochter telefoniert, Max fiebernd im Bett liegt, Charlotte einen Weg aus der eigenen Bedeutungslosigkeit sucht und Conny zwischen Frust und Euphorie oszilliert, und am Ende sind sie alle kaum schlauer als zuvor. Max erhebt sich vom Krankenbett - kein Ebola -, und die Führungsetage reist wieder ab, hinaus aus der Sackgasse der Friedensarbeit und hinein in die nächste Hoffnung des globalen Hilfsapparates.
Rainer Merkel hat einen ungewöhnlich dichten Text geschrieben zu einem Thema, das er durch eigene Erfahrungen und jahrelange intensive Beschäftigung genauestens kennt. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei den westlichen Entsandten, die, vermutlich mit bestem Wollen gestartet, allesamt gefangen scheinen in einem beinahe unheimlichen Netz an Kausalitäten. Der geradlinige Wunsch zu helfen diffundiert in eine unheilvolle Nährlösung aus privaten Verstrickungen, erotischen Phantasien, kaum überwindbaren Egoismen und vor allem der Unmöglichkeit, Sinnhaftigkeit und Zusammenhänge des eigenen Tuns überhaupt zu erfassen.
Wie in einigen großen Stoffen der Weltliteratur bleibt auch hier die afrikanische Realität eher ein Außen, eine Fläche, eine fiebrige Projektion euphorischer Überhöhung oder dumpfer Panik. Die darunterliegenden Diskurse sind greifbar, ohne daß Merkel sich je ins Erklären begäbe. Dieses Stück widmet sich ganz diesem klar umrissenen und doch schwer greifbaren Mikrokosmos des NGO-Compounds und erzählt dennoch nicht nur etwas über das Zwischenmenschliche der Begegnungen, sondern auch über die großen politischen Bögen dieses ungebrochen aktuellen Themas.