Vanishing Points

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Theater, Noch frei zur UA
Inhalt

Honey und Karl Dax sind zwei Vorzeigeexemplare der deutschen Großstadt-Mittelschichts-Schickeria: geschmackvolle Altbaubewohner mit Einzelkind und Jobs, mit denen sich noch ordentlich Geld verdienen läßt. Sie essen gerne Rührei und haben dabei Angst, daß etwas Schlimmes passieren könnte oder vielleicht schon passiert ist. Sie warten auf das Ehepaar Claasen, ihre besten Freunde – jedenfalls auf dem Papier – und vorzügliche Mortadellahäppchenverspeiser, die sich nicht scheuen, auch mal Dinge anzusprechen, die man ja wohl nochmal sagen dürfen wird.

In einer anderen Dimension, aber in derselben Wohnküchenwelt, warten Dwight und Sandra, Kira und Anselm, Malone und Charles, Jackson und Pollock auf das Ende der Langeweile oder zumindest den Beginn der nächsten Party. Als diese um die Ecke kommt, kann zumindest einer nicht mit: der kleine Euphrat, gerade aus Syrien angekommen, dem man es in einem Anflug von Weltrettergeist auf der Couch gemütlich macht – das ist ja wohl schon mal besser als nichts.

Dem Verdacht nachgehend, es könnte vielleicht doch nicht alles so schön und so einfach sein, wie es sich in deutschen Familienwohnküchen, WG-Runden und subventionierten Theatersälen gerne darstellt, feiert Philipp Stadelmaiers VANISHING POINTS noch einmal genüßlich die Errungenschaften des Abendlandes, die man sich von niemandem streitig machen läßt, weder von kleinen syrischen Jungs noch von den viel zu lauten »Scheißnazis« auf der Straße. Wochenendliche Sit-ins mit den lieben Nachbarn inklusive freier Meinungsäußerungen; die Altenpflege im Schichtdienst; der unreglementierte Genuß von Alkohol und seine erhebende Wirkung auf jedes noch so vor sich hin plätschernde Partygespräch; und natürlich die fröhlichen Wissenschaften – stichhaltiges und unbestechliches Erbe der Aufklärung, völlig einzigartig in der Welt.

Die Dekonstruktion der bürgerlichen Großstädteridylle läßt in dieser stilbewußten Groteske nicht lange auf sich warten: Sie steckt bereits in jedem Winkel der nach der Maßgabe gehaltvoller Unterhaltung eingerichteten Wohnzimmerbühnen der Wohlfühlbürger und wartet darauf, ihnen ins Gesicht zu springen. In Auseinandersetzung mit dramatischen und bürgerlichen Konventionen verzerren sich in VANISHING POINTS die Perspektiven, und es prallen Szenarien aufeinander, die je für sich den Anspruch auf Realität erheben. 

Philipp Stadelmaier schickt sich an, eine neue Gattung zu etablieren: den grotesken Edelboulevard – vielleicht die einzige Form, mit der der Wirklichkeit noch beizukommen ist, in welcher die Clowns längst übernommen haben.