Der Freund krank
Ein Mann in den Dreißigern kehrt zurück in seinen »unglamourösen« Heimatort. Sein Jugendfreund Mirko ist verrückt geworden. Mirkos Frau Nora, in die der Heimkehrende einst verliebt war, pflegt den Kranken, von dem sie ein Kind erwartet. Der Ort selbst krankt am Strukturwandel. Das Aroma-Werk wird abgebaut. Stattdessen kommt die Autobahn. Der Mann bleibt trotz allem da. Ihn hält eine Mischung aus Sehnsucht und Schuldgefühl - denn auch er profitiert vom Ausverkauf des Ortes.
Nis-Momme Stockmanns Werk ist ein neoromantisches Epos, in dem ein zerrissenes Ich zwischen Selbst- und Weltanklage taumelt. Scheinbar beiläufig legt Stockmann damit deutsche Zustände und Zwänge offen.
»Das Motiv der Heimkehr - in die Familie, die Provinz, den Tatort der Kindheit - findet sich in den Stücken Stockmanns immer wieder, ebenso wie die Auseinandersetzung mit Krankheit, Tod, persönlichem Verlust, und es gehört zu der großen Begabung des 1981 geborenen Autors, daraus mit sprachlicher Gewandtheit, Wärme und Dringlichkeit zutiefst menschliche, menschelnde, alle und alles hinterfragende Existenzialdramen zu schaffen. Martin Schulze hat für seine Uraufführungsinszenierung in den Kammerspielen den Text stark eingekürzt, ohne ihm die Not und Schmerzlichkeit des Psychogramms zu nehmen, welches Stockmann hier gelungen ist. Stockmanns zunehmendes Bestreben, aus dem Korsett herkömmlicher Dramatik auszubrechen, erzeugt bei ihm inzwischen prosaische Tendenzen, die deutlich zum Roman hinstreben. In 'Der Freund krank' gibt es kaum noch Dialoge. Wie ein haltloser Stream of consciousness zieht sich der Gedankenfluss dahin, erzeugt insgesamt aber einen starken Sog in die Depression, eine melancholische Atmosphäre von Stillstand, Leere, Ausverkauf - der Krankheit nicht nur einer Person, sondern einer ganzen Region, ja Nation. Oder sagen wir vielleicht sogar: Zivilisation.«
»So kompliziert und verknotet, wie sich das anhört, ist ›Der Freund krank‹ auch. Ein Theaterstück mit ›Ich‹ und mit Gedanken, ein Theaterstück aus den Schocks und der Wehmut eines Heimkehrers, das ist durchaus ungewöhnlich. Nis-Momme Stockmann hat ein Ich-Drama geschrieben, dessen oberste Schicht man wie ein Landstraßenanrainerdrama lesen kann, zwischen später Horváth-Nachfolge und Kroetz-Prekariat. Das Theater macht mit den Dramen, was es will, also schreibt jetzt auch der Dramatiker, was er will. So kann man Stockmann lesen. Er überfordert das Theater, wie es geht. Er knallt ihm ein Stück vor die Füße, an dem es zu Kauen haben wird. Wo das Theater Romane inszeniert, bekommt es vom Dramatiker halt Prosa. Und zwar Ich-Prosa der innerlichsten Sorte, sozusagen Tagebuch in epischer Breite. Stockmanns ›Der Freund krank‹ ist ein Berg aus Autoren- und Sozialphantasien, Schuldgefühlen und Komplexen. Stockmanns Stück wirkt als Symptom, als Reaktion auf ein Theater, das sich fürs Drama nicht interessiert, das dem Drama keine Autorität und Form zugesteht. ›Der Freund krank‹ könnte das Drama einer sprachlosen Zeit sein, eine Autorenphantasie, ein Ausbruch, eine Gedankenwelt, eine Anmaßung, eine Überforderung. Im Theater: Routine.«
»Der Freund krank ist ein Stück über einen Heimkehrer. Es ist ein Stück über Landflucht, ein Stück über zurückgelassene Kleinbürger, ein Stück über eine Liebe im Dreieck, ein Stück über die Trauer des Erwachsenwerdens, ein Stück über das Einfach-so-verrückt- werden und nicht mehr mitmachen wollen. Ein Stück über die Vorteile und Nachteile des Handels. Ein Stück über einen Protagonisten mit einem kleinen Selbstwertgefühl. Wenn der Klamauk aus der Inszenierung gewichen ist, wenn Marek Harloff, Nico Holonics und Christian Bo Salle nicht mehr so viel spielen müssen, sondern sich erschöpft diesen großen Brocken Text zu eigen machen, dann entwickelt er wieder seinen eigenen, Stockmannschen Rhythmus, seine Alptraum- und Märchenlogik, die von den kleinen Leuten und ihren Problemen erzählt. Dann fragt die Inszenierung, ob wir wirklich so weitermachen wollen.«
»In seinem neuesten Stück für das Schauspiel Frankfurt schickt Nis-Momme Stockmann ein vertracktes Ich auf die Heimreise. 160 Seiten lang begleitet er dieses Ich, heult, witzelt und röhrt ihm hinterher, wobei er Gattungsgrenzen aufs Schönste ins Schlingern bringt. Heraus kommt kein Instantstück zum quicken Verrühren auf der Bühne, sondern ein Text, der richtiggehend genommen werden möchte. In seinem soziopathischen Witz, seiner mafiafilmtauglichen Dramaturgie und seiner böse blitzenden Ironie indes treffen Text und Regie immer mal wieder aufeinander wie alte Bekannte. Schon in ›Das blaue blaue Meer‹ (2010) und ›Die Ängstlichen und die Brutalen‹ (2011) beäugte Stockmann eine zuversichtslose Welt, die immer nur momentweise in die Herrlichkeit des Lebens kippt. Dabei kippte auch die außerordentliche Poesie, die in Stockmanns Texten steckt, immer nur momentweise in die Inszenierungen.«
»Es ist dies alles ein geisterhaft garstig-komisches Durchspielen des Menschenschlimmstmöglichen: So könnte ›Ich‹ sein und werden, wenn man es vielfach von der Leine ließe. Ein Zeitbefund. In locker böser Heiterkeit.«
»Nis-Momme Stockmann ist ein weiterer Wurf gelungen. Dieses charakteristisch stockmannsche Unikat erzählt unspektakulär vom landläufigen Leben und von der Verstrickung des Einzelnen: Ist das Individuum Opfer oder Täter? Es ist eine Komödie vom tiefsten Ernst, vom Abbildrealismus hebt es sich in seiner poetischen Welthaltigkeit wohltuend ab.«
»Kafkaeske Logikverweigerung schimmert in Stockmanns Sätzen auf, Bedrohliches erwächst aus Banalem. Poetisch und wortwitzig besticht seine wache Sprache. Allein Sätze wie ›Ein lachender Riese hängt eine Laterne in mir auf‹ wären den Theaterbesuch wert.«
»Martin Schulzes Ensembleinszenierung ist äußerst stringent. Das Ich teilt sich in eine Trias von perfekt frisierten jungen Männern mit Anzug und Krawatte; das Sprechtempo ist geschwind, der klappernde Rhythmus der Dialoge steht in einem produktiven Spannungsverhältnis zu dem an sich leisen und poetischen Text und seinem gelinden Humor. Es ist von einer unmittelbaren, über eine platte, fernsehspielartige Abbildhaftigkeit erhabenen Welthaltigkeit, wie sie dem Theater und uns, den Zuschauern, nur zu wünschen ist. Ein Glücksfall.«
2013/2014, Deutsches Theater Berlin
2013/2014, Schauspiel Hannover
Hörspielproduktion RBB, 2013