Maxi Obexer – vom Politischen ins Poetische
In Maxi Obexers neuestem Prosa-Text, dem Roman »Unter Tieren«, folgen wir der Erzählerin auf langen Wanderungen durch Berglandschaften, über Almen, durch Wälder und durch Schluchten. Sie wiederum folgt ihrem Hund, der ihr Einlaß gewährt in eine Welt, die dem modernen Menschen ansonsten meist verschlossen bleibt, die Domäne unverstellter Verwobenheit mit den Zyklen der Natur. Im konkreten wie gedanklichen Dickicht legt die Protagonistin die Verbindungen frei, die zwischen Menschen und Tieren bestehen.
Die Pfade, welche sie dabei beschreitet, dienten durch die Geschichte hindurch zu allerlei noblen und weniger noblen menschlichen Zwecken, aber ihren Ursprung nahmen sie in der Fähigkeit der Tiere, gemäß den Gesetztheiten der Natur intelligente Wege durch die Unwegbarkeit des Geländes zu finden. Man ist geneigt, in diesen beiden Fährtensuchern auch die Autorin Obexer zu erkennen, deren Wirken und Schreiben vor allem angetrieben zu sein scheint von dem Wunsch, denkend Wege zu finden im wirren und dichten Unterholz der Ansichten, Vorannahmen und festen Vorstellungen, die nicht selten den Blick auf die Realität versperren. Dabei ist ihre Suchbewegung ein immer wieder Zurückkehren, ein Fortschreiben der Pfade, und ein Ringen um immer neue Blickwinkel in immer neuen Formen.
Als 1996 vor der Südküste Italiens Geflüchtete elendig ertranken, blieb dies – auf Geheiß der Regierung wohlgemerkt – zunächst über Jahre vor den Augen der Welt verborgen. Aber selbst als der Vorfall bekannt wurde, gab es noch kein großes Bewußtsein für die Verantwortung der »Festung Europa« und kein großes Verständnis für die globalen Migrationsbewegungen, wie wir es heute zumindest haben könnten. Obexer erzählt in dem 2007 uraufgeführten Stück »Das Geisterschiff«, das vielfach weltweit aufgeführt, in mehrere Sprachen übersetzt und vom WDR als Hörspiel produziert wurde, von diesem Vorfall und von den persönlichen wie politischen Implikationen der Tragödie. Sie fragt nach dem Umgang der europäischen Länder mit den Geflüchteten, fragt nach den eigenen Werten dieser Union, legt sie auf den Prüfstand und findet die Widersprüche. Sie griff das Thema Migration früh auf, lange bevor es in der zeitgenössischen Dramatik seine heutige Präsenz gewann, und sie folgte der Fährte dieses so wesentlichen politischen Themas mit Nachdruck. Im Theater tat sie dies zum Beispiel später mit dem Text »Illegale Helfer«, der ebenfalls international Beachtung fand und mit dem Robert-Geisendörfer-Preis sowie dem Eurodram-Preis bedacht wurde. In diesem Stück betreibt Obexer eine radikale Hinwendung zu einem wenig beachteten Narrativ: Nicht das Unerträgliche, nicht das Elend steht im Fokus, sondern jene, die helfen, die dafür sehr viel riskieren – Anstellung, Beamtenstatus, Existenz, Freiheit. Und sie stellt die Frage: »Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist?« Wenn Rechtsstaaten jene kriminalisieren, die menschlich und im Sinne der Menschenrechte handeln. In einer Zeit, in der solche, die für die Zukunft von Menschheit und Erde streiten, bisweilen »Klimaterroristen« genannt werden, wirkt diese Frage in der Rückschau durchaus prophetisch.
Auch in der Prosa folgte Obexer der Tiefenuntersuchung dieses Themas, mit ihrem Debütroman »Wenn gefährliche Hunde lachen« ebenso wie mit dem vielbeachteten Buch »Europas längster Sommer«. In diesem vollführt sie eine sehr erhellende und erstaunliche Denkfigur, indem sie die eigene innereuropäische Migrationsgeschichte – von Südtirol nach Deutschland – zum Anlaß und als Bindeglied nimmt, um über das Migrieren an sich in seinen vielen Gestalten (von einem Land in das andere, vom Ländlichen ins Städtische, von der Arbeiterschicht in die bürgerliche, von einer Sprache in die andere, von einer Sexualität in eine neue) nachzudenken und ihm vor allem nachzuspüren im Gedankenraum eigenen Erlebens. Es ist ein großartiger Brückenschlag, der Obexer hier gelingt, und es ist beeindruckend, wie sie für diese Unternehmung eine ganz neue Sprache erfindet, oszillierend zwischen Essay, Autobiographie, fiktionaler Reflexion und politischem Manifest. Es war absehbar, dass dies Teile der Jury des Bachmann-Wettwerbes überfordern würde, zu dem sie mit dem Text 2017 eingeladen war.
So klug und pointiert Obexers Schreiben und Reflektieren über diese Fragen von Ausgestoßensein und Dazugehören ist, so sehr ist es auch getrieben von einer unverholenen Warmherzigkeit, einem nie philosophisch bleibenden Glauben an die Liebe. Folgerichtig ist diese ein weiterer ihrer über viele Projekte hinweg verfolgten Forschungsgegenstände. Auch dort, wo sie in den romantischen Verwicklungen zwischen Zweien zu einem leidvoll zu erfahrenden Mysterium wird. So rekapituliert eine der Figuren in Obexers ganz geradeheraus betitelten Stück »Die Liebenden«: »Es ist kein Mitleid vorgesehen für die, denen die Liebe sich entzogen hat. Sich immer wieder von Neuem entzieht. Sie sind die wahren Ausgestoßenen. Sie sind die Verstummten, deren Anziehung nicht größer sein könnte. Deren stummer Schmerz nicht verlockender sein könnte. Deren Höhepunkte in Weinkrämpfe übergehen, deren stille Tränen im Bettlaken versickern, die für die anderen die feinsten Perlen delikaten Glücksgenusses sind.« Auch hier wieder jene, die diesseits der Grenze privilegiert sein dürfen, während jenseits die Ausgestoßenen verzweifelt um Einlaß betteln – diesmal getrennt nicht durch äußere Zäune und Mauern, sondern durch die Möglichkeit zu lieben oder immerhin Hoffnung zu haben.
Es ist interessant zu beobachten, daß bei Obexers Schaffen die Themen wie eingeschrieben wirken. Wie sie diese, so scheint es, gar nicht suchen muß, sondern sie fast so etwas wie eine DNA bilden, welche dann in verschiedener Gestalt die Werke hervorbringt. Manchmal schlummern diese literarischen Erbanlagen für eine Weile, tauchen womöglich in Titeln oder Szenen auf, entwickeln sich aber erst nach einer Zeit zu einer offensichtlichen Beschäftigung. In Obexers Drama »Gletscher« ist die Leiche des verunfallten Gelobten genau so eingefroren wie das Leben der zurückbleibenden Frau. Aber Gletscher und Berg sind hier keine Kulisse, sondern treten als Akteure des Dramas auf, wie Jean Baptiste Joly sehr schön in seinem Kommentar zum Stück herausstellt. Die Geschichten der menschlichen Figuren werden erst verständlich in ihrem Eingebettetsein in die fast unendlich scheinende Geschichte des Berges, der erhaben auf die kleinen Menschengeschichten blickt, und doch ist alles Teil eines großen Kontinuums, auf das sich Obexers Blick weitet, um alles in den rechten Proportionen erblicken zu können. Und in die Ausgewogenenheit dieser Balance gehören auch die Tiere, die im neuen Roman als so etwas wie Mittler beschrieben werden, als jene, die uns liebevoll anleiten könnten, aus der Verwirrung der Separation hinaus zu gelangen, hin zu unserem natürlich und beinahe möchte man sagen gesunden Platz in der Gesamtheit des Seins. In ihrem neuesten Text also kommt dieses Obexer'sche Grundthema des Erzählens über die Tiere nun zum Erblühen – und wächst weiter in dem neuen Hörspiel »Mit Tieren gehen« (WDR) und dem Essay »Über Tiere sprechen, über Tiere schreiben« (Deutschlandfunk) –, und das Verhältnis von Mensch und Tier wird sichtbar als eine auf Abwege geratene Urkonstante menschlichen Seins. Aber dieses Thema war kein Einfall, oder keine plötzliche Eingebung, auch kein Ertasten von dem, was gerade en vogue ist, sondern das Ergebnis einer ununterbrochenen Suche oder mehr: eines steten Voranmarschierens auf den inneren Pfaden jener Landschaft, die die Möglichkeit ganz eigenen Erzählens beschreibt.
Die Formen, in denen Maxi Obexer diese Landschaft durchschreitet, beschränken sich indes nicht auf das Medium der Literatur, also ihre Theaterstücke, Hörspiele, Romane und Essays. Auch auf dem Feld der Lehre war und ist die Künstlerin sehr aktiv, mit einer mehrjährigen Gastprofessur an der UdK, regelmäßigen Dozenturen am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und diversen Professuren an amerikanischen Universitäten, darunter am renommierten Dartmouth College. Dabei entwickelte sie eine eigene Didaktik, die, ähnlich wie ihr eigenes Schreiben, gründet in etwas, das man fast schon als eine Art von Aktivismus begreifen kann: der Überzeugung, daß das Schreiben nötig und wichtig ist und daß nicht beliebig ist, auf Basis welcher Kenntnisse und Fertigkeiten man ihm nachgeht. In eine ähnliche Fluchtlinie fällt auch ihr Engagement im Neuen Institut für Dramatisches Schreiben (NIDS), das sie gemeinsam mit dem Maxim Gorki Theater und dem Literarischen Colloquium Berlin gegründet hat und das man durchaus auch als einen politischen Akteur für Autor*innen verstehen kann. Daraus hervor ging u. a. die »Summer School Südtirol für Dramatisches Schreiben«, eine literarisch-dramatische Werkstatt und ein öffentliches und interdisziplinäres Forum, das Kunst, Wissenschaft, Politik Wirtschaft, Aktivismus zu einem je relevanten Thema zusammenführt.
Bei Maxi Obexer kommt das Politische ins Poetische. Nie bleibt es beim Wohlgemeinten oder Kämpferischen, sondern das Anliegen findet immer jeweils ein eigenes Medium, eine eigene Form, gar eine eigene Sprache, eine Poesie. So ist es sehr passend, daß sie 2023 mit dem Alice Salomon Poetik Preis ausgezeichnet wird, den ihr die Jury zuerkennt, weil sie »inspirierend unkonventionell schreibt und dabei stets brennende soziale Fragen angeht wie Flucht, Migration, Gewalt, Unterdrückung, ökologische Themen, das Mensch-Tier-Verhältnis. Im Grunde geht es bei all diesen Themen aber immer um Liebe, um Bezugnahme auf andere und anderes oder eben deren Fehlen in einer zu kalten Welt.«
Herzlichen Glückwunsch!